Ḫattuša/Boğazköy – Die Hauptstadt des Hethiterreiches

Boğazköy-Ḫattuša: Die Stadtruine von Norden. Rechts liegt Boğazkale. Deutlich sind die von den Flüsse Budaközü (links) und Yazır (rechts) tief eingeschnittenen Täler sichtbar, durch das zentrale Plateau eingefasst wird, auf dem die Stadt liegt. © DAI-IST // Andreas Schachner

Forschung

Fragestellung

Seit 1931  wird die hethitische Hauptstadt Ḫattuša und ihr Umfeld unter Federführung des Deutschen Archäologischen Instituts erforscht. Die interdisziplinären Arbeiten dokumentieren die kulturgeschichtliche Entwicklung der Region von ersten Siedlungen im Chalkolithikum über die Entwicklung einer repräsentativen Herrschaftsstadt in hethitischer Zeit, die Entstehung neuer urbaner Strukturen in der Eisenzeit sowie die weitere Entwicklung in der hellenistisch-galatischen Zeit, der römischen Kaiserzeit bis in die byzantinische Epoche.

Unabhängig von spezifischen Fragenstellungen, die auf die einzelnen Epochen beschränkt sind, ermöglichen die Forschungen die diachrone Betrachtung der Auseinandersetzung des Menschen mit dem ihm verfügbaren, geographischen Raum in einer für Anatolien exemplarischen historischen Tiefe. Denn Boğazköy ist ein in der Kulturgeschichte Anatoliens einmaliges Beispiel für die aktive Gestaltung der Umwelt durch den Menschen.

Deshalb ist es möglich, sich mit dem Phänomen der Anpassung an die geographischen Vorbedingungen und der Gestaltung des Raumes außerhalb und innerhalb der Siedlung vergleichend über einen langen Zeitraum auseinanderzusetzen. Durch die über den langen Zeitraum erkennbaren Gemeinsamkeiten und Unterschiede der kulturellen Ausprägung werden die Parameter der geographischen longue durée und im Gegensatz dazu die menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten sichtbar.

Forschungsgeschichte

Die Ruinen von Boğazköy wurden erstmals 1834 von einem europäischen Forscher, Ch. Texier, entdeckt und beschrieben. Er glaubt, die medische Stadt Pteria gefunden zu haben.  Zahlreiche Besuche westlicher Gelehrter führten bis in die 1890er Jahre zu einer Verdichtung der Kenntnisse und ersten Grabungen 1893/94 durch E. Chantre. Die systematische Erforschung begann 1906 mit Ausgrabungen der Istanbuler Museen unter Th. Makridi zusammen mit H. Winckler (Deutsche Orient-Gesellschaft). Die Auffindung größerer Tontafelsammlungen führte bereits 1906 zur Identifizierung der bis dahin unbekannten Hauptstadt der Hethiter: Hattuša. 1907 nahm eine Gruppe des DAI unter O. Puchstein erstmals an den Arbeiten teil und fertigte Pläne und topographische Karten an, die die Grundlage der weiteren Erforschung bildeten. Die Arbeiten Makridis und Wincklers wurden 1911 und 1912 fortgesetzt.

1931 nahm K. Bittel im Auftrag des DAI die Forschungen bis 1939 wieder auf. 1952 konnte er sie fortführen. Zunächst konzentrierte man sich auf die Freilegung großer Teile der Palastanlage (Büyükkale), des Großen Tempels und seiner Magazine, der zentrale Unterstadt und Yazılıkaya (bis 1977). P. Neve hat ab 1978 in der Oberstadt mehr als 30 Tempel und andere öffentliche Bauwerke identifiziert. Die Arbeiten von J. Seeher haben wesentliche Akzente für das Verständnis der Funktionsweise der Stadt gesetzt, da er mehrere unterirdische Getreidesilos und Wasserreservoire untersuchen konnte und so die Grundlage für eine Beurteilung der wirtschaftlichen Funktionen schuf. Seit 2006 ist A. Schachner für die Fortführung der Forschungen verantwortlich. Er führte zunächst die Arbeiten im Tal vor Sarıkale zu Ende. In der Folge richtete er seinen Schwerpunkt auf die Unterstadt und die Klärung chronologischer Fragen. Gegenwärtig liegt der Fokus der Ausgrabungen auf dem Büyükkale-Nordwesthang, der Büyükkale (J. Becker) und dem Westhang der Oberstadt (M. Gruber).

Geschichte des Ortes

Erste Siedlungsspuren in Boğazköy finden sich im frühen Chalkolithikum (1. Hälfte des 6. Jahrtausends v. Chr.) auf Büyükkaya. Diese Befunde weisen nicht nur die ältesten sesshaften Gemeinschaften in Nordanatolien nach, sondern es wird deutlich, dass die Menschen eigenständige, an das Ökosystem angepasste Strategien entwickelten, die sich deutlich von den Kulturen des südlichen Zentralanatolien unterscheiden, um die Region aufzusiedeln. Im Umfeld der späteren bronzezeitlichen Siedlung konnte durch die Untersuchung von Camlıbel Tarlası und Yarıkkaya (beide 4. Jahrtausend v. Chr) die Entwicklung dieser frühen produzierenden Kulturen verfolgt werden

Nach einer Lücke von etwa einem Jahrtausend, dem nur sporadische Siedlungsspuren in Geländebegehungen zu zuweisen sind, wurde im späten 3. Jahrtausend v. Chr. wahrscheinlich aufgrund der strategischen Lage an zwei Gebirgsübergängen eine urbane Siedlung ex nihilo gegründet. Im 19. und 18. Jahrhundert v. Chr. wird am Fuß der ursprünglichen Stadt die Siedlung assyrischer Kaufleute greifbar, die sich im Rahmen eines komplexen Austauschsystems innerhalb Anatoliens und mit dem syro-mesopotamischen Raum hier niedergelassen hatten. Dank der textlichen Hinterlassenschaften der Händler wird erstmals der Name der Stadt, Ḫattuš, und eines ihrer Könige greifbar.

Entgegen früher Annahmen, die sich auf die Erzählung des sogenannten Anitta-Textes stützten, wo nach Anitta, der König von Kaneš, Ḫattuš zerstört und mit einem Fluch belegt habe, der nach einer Siedlungslücke von c. 80 Jahren vom ersten hethitischen König Ḫattušli I. überwunden wurde, zeigen die archäologischen Forschungen, dass der Ort ununterbrochen besiedelt war. Um ca. 1650 v. Chr.  wir Ḫattuša die Hauptstadt der hethitischen Dynastie, die hier aus den Kuššara kommend Zuflucht fand. Bereits sehr früh beginnen die König die Stadt nach ideologischen Kriterien umzugestalten. Ihren Höhepunkt erreichen diese Bemühungen, als im späten 16. Jahrhundert v. Chr. die Stadtfläche nach Süden mehr oder weniger  verdoppelt wurde. Der monumentale Ausbau der Befestigungen, der Palastanlage sowie die Einrichtung eines Tempelviertels in der Oberstadt charakterisieren die Blütezeit der Stadt vom 15. bis in das späte 14. Jahrhundert v. Chr. Nach einem turbulent verlaufenden 13. Jahrhundert v. Chr., in dem die Siedlung sich mehrfach verschiebt endet das hethitische Großreich und seine Hauptstadt um 1180 v. Chr.

In den teilweise hoch anstehenden hethitischen Ruinen siedelten jedoch weiterhin Menschen, die möglicherweise aus dem Norden Anatoliens in das Vakuum vorgestoßen sind. Aus den bescheidenen Anfängen entwickelte sich bis in das 8./7. Jahrhundert v. Chr. erneut eine komplexe Stadt, die bis mindestens in das frühe 5. Jahrhundert v. Chr. hinein bestand. Der unmittelbare Übergang zur hellenistisch-galatische Siedlung ist noch unklar, aber es deuten sich in der Keramik klare Entwicklungslinien an. Die galatische Siedlung wird gerade in den jüngsten Forschungen deutlich greifbar und dauerte wahrscheinlich bis in das späte 1. Jahrhundert v. Chr. an. Im 1. Jahrhundert n. Chr. wir die strategische Lage durch ein römisches Militärlager in der Unterstadt besetzt, das sich bis in das 2. Jahrhundert n. Chr. in ein weitgehend zivile Anlage wandelt. Weitere Befunde deuten darauf hin, dass die Besiedlung während der römischen Kaiserzeit an wechselnden Stellen bis in das späte 4. Jahrhundert andauerte. Im 10. und 11. Jahrhundert wird eine erneute Besiedlung durch ein byzantinisches Dorf in der Oberstadt greifbar, das jedoch um ca. 1060 aufgegeben wurde.

Die heutige Kreisstadt Boğazkale geht auf eine Gründung durch die von den Osmanen aus dem Südosten der Türkei verdrängten Dulkadiroğulları in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück.

Forschungsziele

Zentrales Ziel der interdisziplinären Arbeiten der internationalen DAI-Forschungsplattform ist ein möglichst differenziertes Verständnis der Entwicklung aller greifbaren Kulturstufen. Dabei steht die hethitische Epoche aufgrund ihrer allgemeinen Bedeutung für Westasien insgesamt im Fokus des Interesses. Mehrere laufende Projekte zielen darauf, Lücken im Verständnis der strukturellen, funktionalen und chronologischen Entwicklung insbesondere der hethitischen Stadt zu schließen. Parallel dazu werden besonders bisher weniger gut bekannte Epochen der Kulturgeschichte, z. B. die vor-hethitische Phase, die Eisenzeit, die hellenistisch-galatische Periode und die römische Kaiserzeit in den Blick genommen.

Durch einen komparatistischen Ansatz sollen die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handels greifbar werden. Da die Kulturgeschichte des Raums Boğazköy durch mehrere tiefe Brüche gekennzeichnet ist, bietet sich hier die seltene Möglichkeit, exemplarisch für Zentralanatolien die Gründen für den Zusammenbruch gesellschaftlicher System vergleichend nachzugehen, um die entscheidenden Parameter herauszufiltern. Parallel dazu verdichten die Arbeiten unser Bild insbesondere von Ḫattuša als Sitz der Großkönige, der Reichsverwaltung und als zentraler Kultort des Hethitischen Großreiches. Die archäologischen Arbeiten werden durch die einzigartig reichhaltigen Keilschrifttafelarchive um Einblicke in die Religion, den Kult, die Staatspolitik, die historische Geographie und zahlreichen anderen Aspekten des Lebens wesentlich ergänzt. Forschungen zur Wirtschafts- und Alltagsgeschichte, der Siedlungstopographie und der Siedlungsgeschichte des Umlands runden die Arbeiten ab.

Methoden

Mit dem Ziel ein möglichst facettenreiches Bild der Kulturentwicklung der Region zu erhalten, verbindet das Projekt unterschiedlichste geistes- und naturwissenschaftliche Methoden. Neben stratigraphischen Ausgrabungen, die eingebettet in analoge und digitale Dokumentationssysteme eine wichtige Rolle spielen, ergänzen je nach geologischen und topographischen Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten geophysikalische Methoden, 3D-Scans und Luftbilder die Generierung von Primärdaten. 

Zur Datierung werden neben archäologischen Methoden Radiokarbondatierungen intensiv eingesetzt. Nur so ist es möglich in der stark zerklüftete Landschaft die für jedes Areal individuell zu erarbeitenden chronologischen Abfolgen mit einander zu einem kohärenten Bild zu verbinden. Zur Analyse der wirtschaftlichen Grundlagen erfolgen archäobotanische, archäozoologische und paläoklimatologische Untersuchungen. Grabfunde erlauben durch anthropologische Untersuchungen einen direkten Blick auf den Menschen und seine Lebensumstände. Diese  werden durch laufende Untersuchungen von aDNA aus Kontexten vom Chalkolithikum bis in die Frühe Neuzeit ergänzt.

Aufgrund der Einbettung von Boğazköy in die Landschaft sind geographische und geologische Forschungen besonders wichtig. Der Nachweis von Auswirkungen von Erdbeben spielt dabei ebenso eine große Rolle, wie die Klärung der Frage, woher das Baumaterial für die monumentalen Gebäude stammte, oder wie die hethitischen Teiche durch das Anschneiden des Grundwassers gefüllt wurden.  

Die Dokumentation herausragender Monumente (Nişantaşı, Yazılıkaya, Yerkapı) und Gebäude (der Große Tempel) mit Hilfe modernster 3D-Scantechnik hat nicht nur zur Lesung einzelner Inschriften (die Inschriften von Nişantaşı und Yerkapı) und zur Klärung umstrittener Interpretationen (Yazılıkaya) beigetragen, sondern schafft zudem für den langfristigen Kulturerhalt völlig neue Möglichkeiten.

Die vielfältigen Methoden werden auf alle Epochen der Kulturgeschichte des Ortes gleich angewendet, so dass die jeweiligen Ergebnisse vergleichbar sind, um langfristig wirkende Grundlagen von der Gestaltungskraft der jeweiligen Kultur unterscheiden zu können.

Quellen

Die chronologisch breitgefächerten, interdisziplinären Arbeiten ermöglichen die Erhebung und Analyse einer großen Bandbreite von Daten, die von archäologischen Befunden und Artefakten, über unterschiedlichste Formen der Architektur, Denkmäler der Groß- und Kleinkunst bis hin zu biologischen Materialien (archäobotanische und archäozoologische Funde) reichen. Die Auswertung geographischer, geophysikalischer und geologischer Daten ermöglicht wesentliche Einblicke in den Naturraum zu bestimmten Zeiten und erlaubt so die Beurteilung des anthropogenen Handelns, das sich in den Hinterlassenschaften der materiellen Kultur spiegelt. Gleichzeitig werden  Proben einzelner Artefaktgruppen (z. B. Keramik, Metalle, Stein) naturwissenschaftlichen Untersuchungen unterzogen, um Rückschlüsse auf ihren Ursprung oder Herstellung und Verarbeitung zu gewinnen.

Eine Besonderheit von Ḫattuša ist die große Fülle von Keilschrifttexten (ca. 30000), die im Zuge der Grabungen gefunden wurden und weiterhin auch werden. Die Entdeckung dieser Texte führte bereits im Nachgang der ersten Grabungen nicht nur zur Entzifferung der bisher ältesten bekannten indo-europäischen Sprache, Hethitisch (1915), sondern auch zur Etablierung der Hethitologie als eigenem wissenschaftlichen Fach innerhalb der Altertumswissenschaften. Die enge, sich gegenseitig befruchtende Verbindung zwischen den archäologischen und philologischen Disziplinen prägt bis heute die Erforschung von Ḫattuša (Das Corpus der hethitischen Festrituale: staatliche Verwaltung des Kultwesens im spätbronzezeitlichen Anatolien und Hethitologie Portal Mainz) und ist ein wesentliches Mittel zum besseren Verständnis der komplexen sozio-kulturellen Strukturen der Bronzezeit.

Boğazköy-Ḫattuša: Die Stadtruine von Süden. Im Hintergrund liegt die weite Ebene des Budaközü. © DAI-IST // Yaser Dellal
Boğazköy-Ḫattuša, Gesamtplan der Stadtruine von Boğazköy in hethitischer Zeit. © DAI-IST
Boğazköy-Ḫattuša, Ausgrabungen in der nördlichen Unterstadt. © DAI-IST // Andreas Schachner
Boğazköy-Ḫattuša, rundplastischer Löwenkopf aus dem Tempelviertel in der Oberstadt. © DAI-IST // Andreas Schachner
Boğazköy-Ḫattuša, der rekonstruierte Stadtmauerabschnitt in der Unterstadt © DAI-IST // Andreas Schachner
Boğazköy-Ḫattuša, das Löwentor in der Oberstadt nach Fertigstellung der Rekonstruktion des verlorenen linken Löwenkopfs. © DAI-IST // Andreas Schachner
Boğazköy-Ḫattuša, die rekonstruierten Sphingen auf Yerkapı. © DAI-IST // Andreas Schachner
Boğazköy-Ḫattuša, Ausschnitt aus dem 3D-Modell der Kultanlage von Yazılıkaya. © DAI-IST // Leopoldo Repola
Boğazköy-Ḫattuša / Yazılıkaya, die zwölf Götter in der Kammer B. © DAI-IST // Aykan Özener
Boğazköy-Ḫattuša / Yazılıkaya, der Sonnengott und der Mondgott (v. l.) in der Kammer A. © DAI-IST // Aykan Özener