Die Forschung an der Abteilung Istanbul leistet Beiträge zur diachronen und interdisziplinären Untersuchung Anatoliens und seiner Nachbarregionen vom Neolithikum bis in die Gegenwart. Dabei geht es anhand ausgewählter Beispiele um den Vergleich von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen sowie kulturellen und technischen Manifestationen in vielfältigen Naturräumen, deren Vernetzung es zu untersuchen gilt.

Die aktuelle Forschungsagenda legt einen Fokus auf Interaktionen zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umwelt. Dieser Schwerpunkt ermöglicht den inhaltlichen Austausch zwischen einem breiten Spektrum an Projekten und Disziplinen, die sich mit unterschiedlichen Epochen und Räumen Anatoliens beschäftigen. Mit dem Ziel einer möglichst engen Verbindung von Forschung und Kulturerhalt werden auch in letzterem Bereich besondere Akzente auf lokale Ressourcen und deren Einfluss auf die Ausprägung traditioneller Handwerkstechniken gelegt. In die gleiche Richtung zielt die Integration der denkmalpflegerischen Maßnahmen und der mit ihnen verbundenen Aus- und Weiterbildung in lokale sozioökonomische Kontexte.

Die Förderung des wissenschaftlichen Austausches im Gastland und dessen Integration in bilaterale und internationale Diskurse ist eine Kernaufgabe der Abteilung. Neben Workshops und Tagungen richtet die Abteilung seit 2006 regelmäßig wissenschaftliche Netzwerke aus, die sich innerhalb der scientific community mittlerweile als Aushängeschild etabliert haben. Die Netzwerke ermöglichen den themenspezifischen interdisziplinären Austausch zwischen den Projekten der Abteilung mit der nationalen und internationalen Forschungslandschaft und dienen der Anbahnung und Förderung von Kooperationen mit Partnern aus Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. Sie sind zudem ein wichtiges Instrument der Nachwuchsförderung.

Die Forschungstätigkeit der Abteilung Istanbul ist durch das langfristige Engagement auf den Ausgrabungen am Göbekli Tepe, in Boğazköy-Hattuša und in Pergamon geprägt. Die Plätze verteilen sich von Nordwesten nach Südosten über die vielfältigen Landschaften Anatoliens und bieten eine chronologische Tiefe, die vom 10. Jahrtausend v. Chr. bis in die Gegenwart reicht. Die langfristigen Engagements werden gezielt ergänzt durch kurz- und mittelfristige Projekte, die Schwerpunkte z. B. in der Erforschung nachantiker Perioden setzen und dabei besonders flexibel auf aktuelle Forschungstrends reagieren können. Auf diese Weise wird der konsequent diachrone Ansatz der Abteilung inhaltlich erweitert und aktualisiert.

Die Forschung des DAI in der Türkei nimmt zentrale Phasen der Menschheitsgeschichte und die mit ihnen verbundenen Fragestellungen in den Blick. Dabei konzentriert sich die Abteilung auf Themen, zu deren Entwicklung Anatolien und seine Nachbarregionen in besonders signifikanter Form beigetragen haben oder die sich dort mit besonderem Gewinn exemplarisch untersuchen lassen:

  1. Die Anfänge produzierender Wirtschaftsweise, gesellschaftlicher Differenzierung und Monumentalarchitektur sowie ihre naturräumlichen Voraussetzungen im Frühneolithikum in Obermesopotamien (10.–9. Jt. v. Chr.).
  2. Stabilität und Dynamik von Siedlungsgeschichte im naturräumlichen Kontext: Boğazköy/ Ḫattuša und die zentralanatolische Landschaft vom späten 3. Jt. v. Chr. bis in das 14. Jh. n. Chr.
  3. Die Transformation des Mensch-Umwelt-Verhältnisses auf der Ebene von Mikroregionen am Beispiel Pergamons mit Schwerpunkt auf Hellenismus und römischer Kaiserzeit).
Archäologische Bauforschung: Dokumentation des Amphitheaters von Pergamon mit der Drohne als Grundlage für die Erstellung eines 3D-Modells (2018). © DAI-IST // Felix Pirson
Geophysikalische Prospektionen in der Oberstadt von Boğazköy-Ḫattuša. © DAI-IST // unbekannt
Göbekli Tepe, Sonderbau D: Dokumentation der Wildschweinstatue. © DAI-IST // Moritz Kinzel
Dokumentation von Gebäudestrukturen in Aigai © DAI // Moritz Kinzel
Dokumentation von Gebäudestrukturen in Aigai © DAI // Moritz Kinzel

Die drei DAI-Forschungsplattformen Göbekli Tepe, Boğazköy/ Ḫattuša und Pergamon stehen für charakteristische Phasen der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung Anatoliens und ermöglichen zugleich die Auseinandersetzung mit vielfältigen Räumen wie Städten und Siedlungen, Kultplätzen und Heiligtümern oder Landschaften. Byzantinische Archäologie und historische Bauforschung erweitern als Kerndisziplinen der Abteilung den Betrachtungszeitraums bis in das 20. Jahrhundert hinein und setzen den epochenübergreifenden Anspruch vor allem in kurz- und mittelfristigen Projekten um. Auf dieser Basis wird ein breites Spektrum an aktuellen Forschungsthemen mit Querschnitts-Charakter behandelt werden:

  1. Resilienz und Vulnerabilität sozio-ökonomischer Ordnungen,
  2. Technologien und Organisation komplexer Prozesse,
  3. Sozialer Metabolismus in unterschiedlichen naturräumlichen und kulturellen Kontexten,
  4. Zusammenspiel von Orten und Praktiken im Kult,
  5. Bedeutung von Regionen und ihrer Verflechtungen im Kontext gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen sowie deren kulturelle Manifestationen.

Als weiteres Arbeitsgebiet hat die Baudenkmalpflege verbunden mit Maßnahmen des site management stark an Bedeutung gewonnen. Dem Engagement der Abteilung an drei UNESCO-Welterbestätten entsprechend ist es unser Ziel, an der Schnittstelle zwischen archäologischer Forschung und Kulturerhalt tätig zu werden.

Die Definition der langfristigen Engagements am Göbekli Tepe, in Boğazköy/ Ḫattuša und in Pergamon als internationale und interdisziplinäre Forschungsplattformen eröffnet zahlreiche Möglichkeiten zur Kooperation und Integration deutscher, türkischer und internationaler Partner.

Die interdisziplinäre und diachrone Ausrichtung der Forschung an der Abteilung Istanbul eröffnet innerhalb des DAIs und der DAI-Forschungscluster zahlreiche Schnittstellen. Dies gilt besonders für den Fokus auf Interaktionen zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umwelt, der auch innerhalb des Gesamtinstituts und auf globalarchäologischer Ebene eine wichtige Rolle spielt. Die Abteilung kombiniert traditionelle, fachspezifische Ansätze mit interdisziplinären Forschungsdesigns, die durch die Integration von Natur- und Geowissenschaften auch komplexere sozialökologische Fragestellungen in den Blick nehmen können. Hierin liegt ein besonderes Potential für die Zukunft. So sollen die spezifischen Erfahrungen der Abteilung in der diachronen und interdisziplinären Forschung aktiv in die aktuelle Diskussion über die Weiterentwicklung der archäologischen Fächer und ihrer disziplinären Grenzen sowie über die gesellschaftliche Relevanz von Archäologie in einer von zunehmend komplexen Krisen gezeichneten Welt eingebracht werden.   

Die Abteilung Istanbul führt ihre Projekte aus Archäologie, Bauforschung und Kulturerhalt als bilaterale und internationale Unternehmungen durch. Dabei ergeben sich aus der politischen und wirtschaftlichen Relevanz von Archäologie in der Türkei spezifische Herausforderungen, die die Arbeit der Abteilung stark prägen und zugleich die Reflexion über den Stellenwert von Archäologie im Kontext dynamischen soziopolitischen Wandels zu einer neuen Aufgabe machen. In diesem Zusammenhang steht auch der Ausbau von Aktivitäten in den Bereichen Kulturerhalt und Präsentation des kulturellen Erbes in vielfältigen sozialen Kontexten. Durch die Umsetzung moderner Konzepte von public archaeology soll Akzeptanz geschaffen und zugleich der zivilgesellschaftliche Diskurs gefördert werden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte deutscher archäologischer Forschung in der Türkei wirft Fragen in Hinblick auf den Umgang mit einem Erbe auf, zu dem neben großen Entdeckungen und bedeutendem Erkenntnisgewinn auch die gezielte Nutzung asymmetrischer Machtverhältnisse in der Periode des späten Imperialismus und Kolonialismus durch die Archäologie zählt. Auch diese problematischen Aspekte gilt es bei der Entwicklung von Strategien zukünftiger internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit in der Türkei zu berücksichtigen, die durch die Etablierung egalitärer Formate des Austausches neuen Formen von Hierarchiebildungen im Wissenschaftsbetrieb entgegenwirken sollen.