Staatliche Reformtätigkeit in der römischen Lokalverwaltung

Nillandschaft bei Elephantine, Oberägypten © M. Müller // M. Müller

Forschung

Wissenschaftliche und historische Kontextualisierung

Militärische Einbrüche an mehreren Fronten, eine schnelle Abfolge von Regenten, die sämtlich dem Dunstkreis des Militärs entstammten, politische Fragmentierung und Abfallbewegungen, wirtschaftliche Stagnation oder gar Niedergang: all dies hat die Forschung veranlasst, von der „Krise des 3. Jahrhunderts“ zu sprechen, eine Begrifflichkeit, die jedoch in ihrer allumfassenden Aussagekraft seit Jahrzehnten relativiert wird. Gegen Ende des Jahrhunderts konsolidierte sich das Reich und überlebte noch knapp zwei Jahrhunderte in seinen aus der Hohen Kaiserzeit bekannten Ausmaßen – doch seine Regierung, seine Verwaltung, sein Militär, seine Städte und Dörfer, seine Familien hatten sich grundlegend verändert.

Bislang weitgehend außen vor blieb in diesen Betrachtungen jedoch der Quellenreichtum, den die papyrologische Evidenz aus der römischen Provinz Ägypten für die Initiative von Staat und Verwaltung auf der Reichs-, Provinzial- und Lokalebene bereithält, also gerade auch für das provinziale Hinterland, in dem die Mehrheit der Untertanen und Steuerzahler lebte und über das sich die literarischen Quellen, abgesehen von anekdotischer Evidenz, in aller Regel ausschweigen.

Top-down Zugänge, die von der imperialen Perspektive ausgehen, müssen die Implementierung von Reformansätzen quellenbedingt primär als eine Auseinandersetzung zwischen zentralstaatlicher Reichsregierung und ‚dem Rest‘ lesen. Dieses Projekt sucht stattdessen nach Gründen der römischen ‚Erfolgsgeschichte‘ des 3. Jahrhunderts aus der Sichtweise der Lokalverwaltung, welche das materielle und personelle Fundament des Römischen Reiches bildete. Ausgehend von den papyrologischen Quellen wird es möglich, ‚den Staat‘ gesamtheitlich als Zusammenspiel administrativer Akteure zu erfassen – und zwar auch jener Akteure aus den Städten und Dörfern, wie sie in die Netzwerke der lokalen Bevölkerung eingebunden waren. Ein Fokus wird dabei zu Beginn auf der Steuerverwaltung liegen, da hier staatliches Handeln und Interessen unmittelbar präsent sind und überdies zahlreiche Zeugnisse vorliegen. Es erstaunt in der Tat, dass bislang noch keine umfassende Studie zur Fiskalverwaltung Ägyptens während des 3. Jahrhunderts in Angriff genommen wurde.

Fragestellung und methodische Herangehensweise

Die Ausgangshypothesen dieser Arbeit sind, dass die römische ‚Erfolgsgeschichte‘ des 3. Jahrhunderts durch Reformpolitiken begünstigt wurde und dass die vielfältigen Veränderungen der administrativen Landschaft innovativen Charakter trugen und als weitsichtig bezeichnet werden können. Im Zentrum des Projektes stehen somit die Suche nach der Natur der Reformen römischer Lokalverwaltung und die Frage nach übergeordneten Zusammenhängen zwischen auf den ersten Blick kleinteiligen Maßnahmen. Ob ‚Krisenmomente‘ dabei sogar nicht nur reaktives Handeln provozierten, sondern mittelfristig sogar zu Maßnahmen führte, die als initiativ gewertet werden können, wird ebenfalls zu fragen sein; über diese traditionell angeführte Antithese von reaktiv vs. initiativ hinaus wird das Projekt jedoch ebenso untersuchen, inwieweit reaktive Maßnahmen rein affirmativ funktionieren (also bestehende Institutionen anwenden oder festigen) oder durchaus auch innovativen Charakters sein konnten.

Jüngere Beiträge haben deutlich gemacht, dass die Forschung der letzten Jahrzehnte, in einer Art „anti-étatisme“, hinsichtlich lokaladministrativer Reformen womöglich zu sehr die lokale Selbstorganisation betont hat und die Frage nach der Involvierung der Zentralverwaltung neue Beachtung verdient. Doch selbst im Grunde recht prominente, da von der Reichsverwaltung ausgehende, administrative Maßnahmen des 3. Jahrhunderts, etwa die weitgehenden Reformen der Provinz- und Lokalverwaltung unter Philippus Arabs (244–249 n. Chr.), entbehren bislang einer umfassenden Analyse im weiteren Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen des 3. Jahrhunderts.

Um die Ausgangshypothese zu testen, sollen Institutionen, Maßnahmen und Prozesse der Provinzial- und Lokalverwaltung Ägyptens einer strukturellen Analyse unterzogen werden; hierbei wird es auch darum gehen, die Vielzahl der relevanten Zeugnisse, die vor allem aus den dokumentarischen Papyri bestehen, regional und chronologisch differenziert zu interpretieren und in ihrem jeweiligen Kontext zu verorten. Die Integration der verschiedenen Ebenen (nämlich der des Reiches, der Provinz, der Städte/Gaue und der Dörfer) in ein kohärentes Modell ist dabei eine besondere methodische Heraus­forderung, zumal die Evidenz trotz vergleichsweise großen Umfangs regional sehr ungleich verteilt ist und sich die gesamte Provinz betreffende Texte nur in wenigen Fällen finden. So müssen verschiedene lokale Quellenkomplexe sowie verschiedene administrative Ebenen (lokal, regional und imperial) miteinander in Beziehung gesetzt werden, um eine zentrale Forschungslücke am Übergang von Hoher Kaiserzeit und Spätantike zu füllen.

Relevanz und Perspektiven der Projektentwicklung

Das Projekt trägt dazu bei, eine markante Lücke zu schließen, denn bislang liegt für diese Zeit der Römischen Geschichte noch keine umfassende Betrachtung der lokalen adminis­trativen Gegebenheiten und ihrer politischen Hintergründe vor. Das Forschungsvorhaben ist somit aus dem Grund bedeutend, dass es die erste übergreifende Behandlung lokalen staatlichen Handelns, und dessen imperialen Rahmens, für die bedeutende Provinz Ägypten hervor­bringen wird. Das so erschlossene administrative Netzwerk der Provinz- und Lokalverwaltung Ägyptens und seine Veränderungen von den Severern bis ans Ende der Ersten Tetrarchie zu verfolgen, kann dann die Basis für weitere Detailstudien sein.

In Anbetracht der anhaltenden Diskussionen in der Forschung um die Frage, ob sich im Ägypten des 3. Jahrhunderts überhaupt Krisensymptome finden lassen bzw. wie diese allenfalls zu bewerten seien, bieten die Ergebnisse der Studie möglicherweise Anlass für eine Neudiskussion der Annahme, dass lokale Reformen vormoderner Administrationen stets als Reaktionen auf unmittelbare regionale Heraus­forderungen zu deuten seien. Stattdessen ist zu fragen, ob solche Veränderungen womöglich auch als übergreifender Versuch gewertet werden können, eine Provinz aufgrund ‚globaler‘ Herausforderungen umzugestalten, etwa um Fehlentwicklungen in anderen Regionen des Reiches aufzufangen.

Wenn sich die Methodik und die Resultate als tragfähig erweisen, soll die Studie schließlich zu diesem Zweck erweitert werden, um das entwickelte Modell auf andere Reichs­regionen, für die weit weniger detaillierte Dokumentation verfügbar ist, zu übertragen. Als naheliegende, da gut dokumentiert, bietet sich etwa die Region Kleinasien an. Über normative und epigraphische Quellen erreicht man naturgemäß nicht die Ebene, wie sie uns die Papyri für Ägypten zeigen, doch auch in Kleinasien finden sich Indizien für einen stärkeren Zugriff staatlicher Akteure auf lokale Verhältnisse, etwa durch die zunehmende Präsenz bestimmter Beamter im Kontakt mit der Dorfebene. Die vergleichende Analyse solcher möglicher ‚konzeptueller‘ Parallelen kann dazu beitragen, unser Bild, wie die römische Zentral­­gewalt die Zustände in den Provinzen wahrnahm, neu zu bewerten, und damit auch unsere Ansichten darüber, wie das Reich ‚funktionierte‘.